Gefangen im Feed: Wie TikTok uns länger hält, als wir glauben
29. Oktober 2025, Madlyn Matthies

Key Insights

– Die Selbstwahrnehmung trügt: Nutzer unterschätzen systematisch, wie viel Zeit sie tatsächlich auf der Plattform verbringen

– Der schleichende Effekt: Innerhalb von nur sechs Monaten verdoppelt sich bei vielen die tägliche Nutzungsdauer – fast unbemerkt

– 90/10-Regel: Was wir sehen, bestimmen nicht wir selbst – der Algorithmus übernimmt fast vollständig die Kontrolle

 

Die Washington Post hat eine beispiellose Studie durchgeführt, um zu verstehen, warum TikTok-Nutzer so viel Zeit auf der Plattform verbringen. Im September 2024 stellten über 1.100 Menschen – darunter 879 aus den USA – ihre kompletten TikTok-Nutzungsdaten der letzten sechs Monate zur Verfügung. Das Ergebnis: Ein einzigartiger Datensatz mit 15 Millionen Videos, der erstmals im großen Stil zeigt, wie echte Menschen die App nutzen. Diese Art der Datenerhebung war notwendig, weil ByteDance, TikToks Mutterkonzern, kaum Informationen über die Funktionsweise seines Algorithmus veröffentlicht.

Die zwei zentralen Forschungsfragen

TikToks offizielle Nutzungsdaten sind überraschend unvollständig: sie zeigen nur, welche Videos angezeigt wurden, nicht aber wie lange jemand zugeschaut hat. Die Forscher entwickelten eine clevere Lösung: Sie berechneten die Watchtime anhand der Zeitdifferenz zwischen aufeinanderfolgenden Videos. Zusätzlich luden sie Metadaten von 14,8 Millionen Videos herunter, darunter Transkripte und Aufrufzahlen. Die Studie hat zwar Limitierungen – Gelegenheitsnutzer sind vermutlich unterrepräsentiert – dennoch handelt es sich um einen der umfassendsten Datensätze über echtes TikTok-Nutzungsverhalten.

Das zentrale Ergebnis: Verdoppelung der Nutzungszeit

Die Analyse offenbarte ein beunruhigendes Muster: Bei vielen Teilnehmern verdoppelte sich die tägliche Nutzungszeit innerhalb von nur sechs Monaten. Besonders aufschlussreich ist der Fall einer Washington Post-Mitarbeiterin, die 42.000 Videos konsumierte und glaubte, weit über dem Durchschnitt zu liegen. Tatsächlich befand sie sich knapp unter dem Median. Diese Diskrepanz zeigt eindrücklich, wie sehr Nutzer ihren eigenen Konsum unterschätzen. Der Algorithmus empfiehlt dabei etwa 90 Prozent der angezeigten Inhalte, während nur 10 Prozent von aktiv gefolgten Accounts stammen.

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Der «Gewöhnungseffekt»

Die Studie liefert einen einzigartigen Einblick in die Funktionsweise moderner Social-Media-Plattformen und zeigt, wie mächtig personalisierte Algorithmen geworden sind. Die schleichende Verdopplung der Nutzungszeit deutet auf Gewöhnungseffekte hin, die vielen Nutzern selbst nicht bewusst sind. Was ByteDance nur ungern preisgibt, haben nun über 1.100 Nutzer freiwillig offengelegt – ihre digitalen Gewohnheiten und Vorlieben. Die Ergebnisse sind ein wichtiger Beitrag zur Debatte über die Auswirkungen algorithmischer Empfehlungssysteme auf unser Verhalten und zeigen: Die Anziehungskraft von TikTok ist kein Zufall, sondern präzise berechnet.

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